3. Fluchtversuche

von Werner

So schmiedeten wir einen Fluchtplan. Mein Freund, Getzö Georg war Flieger, er sprach vier Sprachen und seine Mutter war Russin aus Arad in Siebenbürgen. Also machten wir uns auf die Flucht. Wir gingen drei Nächte zu Fuß, bis wir zu einem Güterbahnhof kamen.

Dort haben wir unser letztes Brot gegessen und den Rest unseres Wassers getrunken. Wir legten uns flach auf einen langen Holztransport, in der Hoffnung, dass er Richtung Kiew geht. Leider fuhren wir in die falsche Richtung und wir kamen auf der Krim an. Dort holten sie uns mit den Hunden von der Holzladung und brachten uns zum Verhör. Als sie merkten, dass wir Kriegsgefangene waren, sah es für uns nicht mehr so schlimm aus. Sie gaben uns zu essen und Mahorka zu rauchen und fragten uns immer wieder, woher wir kommen. Wir kämen von einem Wald Kommando gaben wir zur Antwort und wüssten nicht mehr, wo es war. Man hatte uns geglaubt. Nach ein paar Wochen brachten sie uns mit 32 Männern nach Sotschie und von dort nach Stalingrad in das 13. Lager an der Wolga. Dort ging ein Teil in das Sägewerk. Das Holz wurde aus dem Wasser gezogen. Wir Neuankömmlinge wurden zu Erdarbeiten eingeteilt. Durch die Steppe wurden Elektroleitungen gelegt. Mit dem Lastwagen wurden wir dort hingebracht. In gewissen Abständen wurden Löcher mit einem Durchmesser von sechs Metern und einer Tiefe von zweieinhalb Metern gegraben. Die Arbeit war sehr deprimierend. Denn immer wieder fanden wir Überreste des Krieges. Schrecklich anzusehen waren die Skelette von Menschen und Tieren (Pferden).

Abends brachte man uns wieder ins Lager.

Es war irgendwann im Jahre 1946, als uns wieder einmal das Heimweh packte und wieder beschlossen wir bei der nächsten Gelegenheit zu flüchten. Die Flucht gelang und wir waren elf Tage unterwegs. Ich konnte inzwischen schon etwas Russisch sprechen und mein Freund perfekt. So bettelten wir uns durch, obwohl der Großteil der Russen selbst sehr arm war. Unsere Mahlzeiten bestanden oft aus Brennnessel und Molden mit Läusen. Der Hunger war groß, tat weh und war unser ständiger Begleiter. Es war der elfte Tag unserer Flucht, als wir zur Tonbrücke kamen und wir aufgehalten wurden. „Ausweis, Ausweis!“, schrie ein Mann und anschließend begann auch schon das Verhör. Sie wollten von uns wissen, woher wir kamen. Wir hatten nichts verraten, denn wir hatten Angst vor der Strafe, die uns im Lager erwarten würde, wenn sie uns zurückschicken würden. Mit der Bahn haben sie uns nach Stalino gebracht und von dort nach Magjefka in ein Lager. Wieder wurden wir verhört und kamen anschließend in den Katzer (Gefängnis). Einen Tag lang bekamen wir nichts zu essen und am zweiten Tag bekamen wir zu zweit ein Kochgeschirr mit kleinen Salzfischen aber ohne Brot. Wir wurden darauf sehr durstig und verlangten nach Wasser. Der Oberstleutnant sagte, ihr bekommt erst Wasser, wenn euch einfällt von welchem Lager ihr geflüchtet seid. Der Durst war eine Qual. Der Leutnant stellte sich zum Wasserhahn und ließ das Wasser fließen. Das war für uns sehr hart und schwer zu überstehen. Trotzdem hielten wir durch und verrieten das Lager nicht. Wir wurden wieder in den „Katzer“ gesperrt. Der Durst war inzwischen schon so groß, dass wir das Lager, aus dem wir geflohen waren, fast verraten hätten. Zu unserem Glück kam ein Feldwebel beim „Katzer“ vorbei. Ich habe ihn angebettelt, er möge uns bitte Wasser geben. Er sagte Karascho Fritz du bekommst Wasser, weil du so schön bittest, und brachte uns den lang ersehnten Durstlöscher. Wir waren sehr dankbar. Nach ungefähr einer Stunde holte uns der Offizier abermals zum Verhör. Da wir das Lager noch immer nicht preisgaben, bekamen wir ein paar Ohrfeigen und zu unserem Erstaunen auch Wasser. Danach ging es ab in die Strafkompanie nach Magjefko bei Stalino wo ein großes Industriegebiet, Hüttenwerk, Kohlenverwertung, Koks und Panzerfabrik und auch eine Konservenfabrik war. Auf diesem Gelände waren auch Gefangenen- und Internierten-Lager. Frauen aus Ungarn und Siebenbürgen die verschleppt wurden sind auch dabei gewesen. Wir von der Strafkompanie mussten die schlechteste Arbeit verrichten und wurden noch dazu gedemütigt. Der Politoffizier verhörte uns manchmal die halbe Nacht. Ich weiß nicht mehr genau, aber es waren über vierzig Fragen. Meinen Lebenslauf musste ich auch über dreißigmal schreiben. Bei dem letzten Verhör bekam ich ein braunes Backpapier, das die ungefähre Größe von einem Quadratmeter hatte. Das musste ich vollschreiben. Mir wurde bange, aber ein ungarischer Oberstleutnant gab mir den Rat, die Buchstaben größer zu schreiben. So schrieb ich meinen Lebenslauf in großen Buchstaben und gab ihn dem Politoffizier. Wütend gab mir dieser eine Ohrfeige. Ich musste zum Glück keinen mehr schreiben. 

Die Brigadiere waren meistens Spitzel und wussten über jeden Bescheid. Sie gingen beim Politoffizier aus und ein und jede Kleinigkeit wurde verraten. Danach musste man gleich wieder zum Verhör, wo der Politoffizier erneut Fragen stellte, welche man nicht beantworten konnte. Man wurde mit dem Gesicht an die Wand gestellt und bekam einen Stoß, so dass man mit dem Gesicht an der Wand aufschlug. Oder man musste auf einem Fuß stehen, den anderen auf das linke Knie stützen, den Ellbogen darauf und den Zeigefinger auf den Kopf. Er sagte, es muss euch alles einfallen, was ich euch frage.

Beim Künettengraben für die Hochöfen ist ein deutscher Kamerad in der Mittagspause auf einen Brückenkran geklettert. Oben schrie er: „Heil Kameraden, grüßt mir die Heimat!“, und sprang in einen vorbeifahrenden Kesselwaggon mit flüssigem Erz. Es gab eine blaue Stichflamme und weg war er. Es war furchtbar. Es gab große Aufregung wegen dem Selbstmord. Man hat uns oft zusammengetrieben und gezählt. Unterwegs zum Lager wurden wir von den Posten beschimpft und mit dem Gewehrkolben gestoßen. Im Lager mussten wir dann die halbe Nacht stehen, weil wir auf unseren Kameraden nicht aufgepasst hatten. Am nächsten Tag mussten wir in die Konservenfabrik zum Kohlen ausladen. Am Vormittag kam ich an einer Halle vorbei, wo fünf russische Mädchen Kristallzucker geschaufelt hatten. Ich habe sie angebettelt, mir ein wenig Zucker zu geben. Sie fragten mich, wo sie den Zucker hineingeben sollten. Ich hielt meine Hosentaschen hin, da fragte ein Mädchen, ob ich lange Unterhosen anhätte. Da ich eine trug, meinten sie, ich solle mir diese bei den Knöcheln zubinden. Eine andere sagte: „Hose runter!" Ich zögerte, aber schließlich tat ich es für meine Kameraden und mich. So bekam ich von hinten ein paar Schaufeln Zucker in die Hosenbeine gefüllt. Die Mädchen bogen sich vor Lachen. Ich hatte nicht an die Folgen gedacht. Es dauerte noch lange bis zu abendlichen vier Kilometer Marsch in unser Lager. Der Kristallzucker, der mir bis über die Knie ging, rieb und brannte auf meinen Beinen. Meine Kameraden nahmen mich in die Mitte und schleppten mich abwechselnd bis zum Lager. Dort angekommen stellte ich mich auf eine Decke. Ein Kamerad schnitt mir die Bänder an den Knöcheln auf und der kostbare Zucker rieselte auf die Decke. Es war für mich eine riesige Erleichterung. Ein Kamerad holte Wasser, damit ich mich waschen konnte. Die Haut brannte höllisch. Ich würde es sicher nie wieder machen, obwohl wir einen Teil des Zuckers für Brot und Zigaretten tauschen konnten.

Teil 1: Meine Schicksalsjahre 1944-1953

Teil 2: Transport ins Gefangenenlager

Teil 3: Die Fluchtversuche

Teil 4: Not macht erfinderisch

Teil 5: Arbeit im Kohlebergwerk

Teil 6: Neuerlicher Fluchtversuch

Teil 7: Transport in Richtung Heimat

Teil 8: Der 4. Oktober 1953 - Es geht endlich nach Hause

Quelle: Matthias Schmitzhofer